Page 21 - gasolin#05
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im Fenster  zuwinkt, eine alte Frau im geblümten  Kollapsgefahr!  Da ein Fläschchen Sedilanid,  hier ein
                   Morgenrock  ihren Spaniel  spazierenfütrt,  ein Rent-  Schächtelchen  sonstigen  pharmazeutischen  Lebend-
                   ner um halb neun Rosenstöcke stutzt,  der Brief-  macher. Drei LIhr und ich trinke Kaffee,  öffne,
                   träger um zehn gewissenhaft  Briefe verteilt. Keiner  schließe  das Fenster, öffne, schließe  den jämmedi-
                   für mich. Ich mache eine Büchse Ravioli auf, esse  sie  chen Schrank mit den drei Kleiderbügeln.  Im Nacht-
                   kalt,  gehe  um elf zur Apotheke an der Ecke, kaufe  tischchen  die mit Zeitungspapier ausgelegte  Schub-
                   Schlaftabletten, schlucke  ein Dutzend  und schlafe  lade, unten nacktes sprödes  Holz, wo in den Schwei-
                   ein.                                         zer Alpenhotels noch Nachttöpfe  stehen.
                   Tage später wache ich auf. Schwindlig, mit blutun-  Mein Herz pumpert.  lch schlucke  Tabletten, rauche
                   terlaufenen  Augen humple ich zum Briefkasten.  Unmengen.  Ich werde verrückt  -   denke ich  -   da
                   Nichts.  Wie sollte auch? Was ist eigentlich  los?  wird alles leer, tot und schwarz. Die Gegenstände
                   lch gehe in die Stadt und saufe mit einer alten  Hure  haben eine Sprache.  Schwatzen mir das Hirn voll.
                   eine Flasche  Wodka, wache im Kantonsspital in  Was will der Schrank? Draußen das zuckende  Re-
                   einem Gitterbett  auf. Eine Schwester  putzt das ver-  klamelicht,  das seine Worte in das vibrierende Hirn
                   schissene  Bett.  ,,Jetzt  schlafen wir aber ruhig weiter,  peitscht.  In mir schreits, weil ich das nicht mehr  ver-
                   und wenn wir was brauchen,  drücken wir hier auf  stehe, in mir schreits, weil ich das nicht mehr  aus-
                   den Knopf, gäll!"                            halte, wie eine Flipperkugel,  die an elektrische
                   Ich spüre eine Alarmglocke  zwischen den Fingern.  Kontakte  sctrlägt, zu rotieren  und ruckzuck  irgend-
                   Meine  lnnenwelt  spielt sich außerhalb  von mir ab.  wohin  befördert  zu werden.  Vier Uhr. Ich ziehe mich
                   Mein Unterbewußtsein  spaziert vor dem Gitterbett  aus, lege mich neben sie und ficke sie von hinten.
                   auf und ab  -  eine gallige  Masse  wulpst von der einen  Sie wacht halb auf und knetet  sanft  meine Eier.
                   Seite zur andern. Ein Arzt kommt.  Puls, Schlagader,  Um halb acht morgens wacht  sie auf, zieht sich an
                   Mund auf, Augen  runterziehen, Herz abhorchen,  und sucht Geld und Pass  in meiner  Hose. Ich nehme
                   Leber drücken. Kann mir jemand  sagen um was es  ihr die Hose weg, ziehe  sie an und ich und das Mäd-
                   hier geht?                                   chen gehen  zusarnmen  runter, wo ich bezahle. Wir
                   Tage später  fahre ich nach Nizza,  weil dort ein Mäd-  gehen in der Morgensonne durch die noch leeren
                   chen wohnt, das mich vielleicht  liebt. Ich schlendere  Straßen. In einem Bistro trinken wir Kaffee,  essen
                   auf dem  Boulevard über dem Strand. Stundenlang.  Croissants.  An einer Ecke sagen wir  ,,au  voir".
                   Von einem Ende zum  andern. An einem Coca-Stand  An meinen ungewaschenen  Fingern  riechts  noch
                   trinkt eine Französin eine Coca. Ich kaufe mir auch  nach ihr. Ich gehe zum Bahnhof,  kaufe ein Ticket
                   eine, lehne mich neben  sie an einen Sonnenschirm,  nach Barcelona  und warte aufden Zehnuhrdreiund-
                   frage ob sie mitkommt.  Sie ist eine Jugoslawin  und  zwanzig-Zug nach Marseille.  Es ist Sonntag  1966.
                   zusammen  fahren  wir mit dem Lift in den dritten
                   Stock und  gehen ins Zimmer 318. Sie zieht sich
                   aus, legt sich ins Bett. Ich stehe am Fenster, blicke
                   in den Hinterhof. Di.ister, obwotrl  es Sommer  ist
                   oder zumindest  eine sommerähnliche  Jahreszeit.
                   Wenn ich da in den düsteren Hinterhof falle, würden
                   die Katzen da unten in die Ecken  rennen  und das
                   zuckende  Fleischbündel,  das ich wäre,  anfauchen. Ich
                   drehe mich um.
                   Den einen Arm unter den Kopf gelegt,  den andern
                   schräg  über den Bauch, die Hand zwischen  den Bei
                   nen. Ich setze mich auf das Bettende, streictrle  ih-
                   ren Knöchel,  ihr flimmerbehaartes Bein, ihre Hand
                   zwischen  den Beinen. Ich stehe wieder auf, wolfe
                   zum Fenster. Hier irgendwo  in Nizza ist das Mäd-
                   chen, das mich vielleicht liebt. Hinter  mir ein Gluck-
                   sen, das Geräusch  wenn eine Hand über rauhe
                   Schamhaare reibt. Ich spinne,  denke ich. Gegen-
                   über auf einem Sims mickrige  Geranien.  Da kommt
                   keine Sonne hin. Geranien brauchen viel Sonne.
                   Die Sonne ist weit weg von diesem Hinterhof . . .
                   da scheint  keine  Sonne  hin. Schmatzende Laute hin-
                   ter'mir.  Wenn  ich nur wüßte was ich mache. Fremde
                   Worte. Das faltige Geräusch  von Leintüchern.  Manch-
                   mal scheinen  mir Sekunden zu langsam.  Es ist sie-
                   ben Uhr abends.  Blaudunkler  Himmel  -   Kinderge-
                   schrei vis-ä-vis. Neun Uhr. Lichter. Fenster.  Eine
                   Frau kreischt,  ein Mann brtillt. Das zuckende Licht
                   einer  Reklame,  die ich nicht sehe. Jemand  schüttet
                                                                Matthyas  Jenny  ist ziemlich viel unterwegs:  Istanbul,  New
                   Abf?ille  aus einem Fenster, unten  ein Fauchen  und  York City,  Los  Angeles  & überall wo sonst  noch  was los ist.
                   das fast nicht hörbare  Jagen nach Abfiillen. Elf LIhr.  Veröffentlichungen:  CITY STRAIGHT  UP u.a. Chefpilot
                   Das phosphoreszierende  Licht meiner Armbanduhr.  der NACHTMASCHINE.  Wenn  er beim siebten  Whiskysoda
                                                                etwas gesprächiger wird, eruählt  q  beispielsweise vom  Can-
                   Ich gehe auf und ab. Das Mädchen liegt wie eine  dy Club in Amsterdam  oder was vor drei Tagen  grad in
                   Leiche  unter dem Leintuch. Ein Llhr. Auf dem  Mannheim abging  oder vor zwei Tagen in Basel,  was  alles
                   wackligen  Nachttischchen zwischen Taschentuch,  irgendwie ins Konzept  seines  Romans paßt,  an dem er gera-
                   Mikrzen, Fahrplan,  ein Zettelchen  vom Spitalarzt.  de arbeitet  . . . Spurensicherung in Zeit und Raum  . . .
                                                                Sonntag 1966 c by Matthyas  Jenny
                   Mit roter Schrift: Kein Alkohol, keine Zigarctten,
                                                                                                          2t
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