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im Fenster zuwinkt, eine alte Frau im geblümten Kollapsgefahr! Da ein Fläschchen Sedilanid, hier ein
Morgenrock ihren Spaniel spazierenfütrt, ein Rent- Schächtelchen sonstigen pharmazeutischen Lebend-
ner um halb neun Rosenstöcke stutzt, der Brief- macher. Drei LIhr und ich trinke Kaffee, öffne,
träger um zehn gewissenhaft Briefe verteilt. Keiner schließe das Fenster, öffne, schließe den jämmedi-
für mich. Ich mache eine Büchse Ravioli auf, esse sie chen Schrank mit den drei Kleiderbügeln. Im Nacht-
kalt, gehe um elf zur Apotheke an der Ecke, kaufe tischchen die mit Zeitungspapier ausgelegte Schub-
Schlaftabletten, schlucke ein Dutzend und schlafe lade, unten nacktes sprödes Holz, wo in den Schwei-
ein. zer Alpenhotels noch Nachttöpfe stehen.
Tage später wache ich auf. Schwindlig, mit blutun- Mein Herz pumpert. lch schlucke Tabletten, rauche
terlaufenen Augen humple ich zum Briefkasten. Unmengen. Ich werde verrückt - denke ich - da
Nichts. Wie sollte auch? Was ist eigentlich los? wird alles leer, tot und schwarz. Die Gegenstände
lch gehe in die Stadt und saufe mit einer alten Hure haben eine Sprache. Schwatzen mir das Hirn voll.
eine Flasche Wodka, wache im Kantonsspital in Was will der Schrank? Draußen das zuckende Re-
einem Gitterbett auf. Eine Schwester putzt das ver- klamelicht, das seine Worte in das vibrierende Hirn
schissene Bett. ,,Jetzt schlafen wir aber ruhig weiter, peitscht. In mir schreits, weil ich das nicht mehr ver-
und wenn wir was brauchen, drücken wir hier auf stehe, in mir schreits, weil ich das nicht mehr aus-
den Knopf, gäll!" halte, wie eine Flipperkugel, die an elektrische
Ich spüre eine Alarmglocke zwischen den Fingern. Kontakte sctrlägt, zu rotieren und ruckzuck irgend-
Meine lnnenwelt spielt sich außerhalb von mir ab. wohin befördert zu werden. Vier Uhr. Ich ziehe mich
Mein Unterbewußtsein spaziert vor dem Gitterbett aus, lege mich neben sie und ficke sie von hinten.
auf und ab - eine gallige Masse wulpst von der einen Sie wacht halb auf und knetet sanft meine Eier.
Seite zur andern. Ein Arzt kommt. Puls, Schlagader, Um halb acht morgens wacht sie auf, zieht sich an
Mund auf, Augen runterziehen, Herz abhorchen, und sucht Geld und Pass in meiner Hose. Ich nehme
Leber drücken. Kann mir jemand sagen um was es ihr die Hose weg, ziehe sie an und ich und das Mäd-
hier geht? chen gehen zusarnmen runter, wo ich bezahle. Wir
Tage später fahre ich nach Nizza, weil dort ein Mäd- gehen in der Morgensonne durch die noch leeren
chen wohnt, das mich vielleicht liebt. Ich schlendere Straßen. In einem Bistro trinken wir Kaffee, essen
auf dem Boulevard über dem Strand. Stundenlang. Croissants. An einer Ecke sagen wir ,,au voir".
Von einem Ende zum andern. An einem Coca-Stand An meinen ungewaschenen Fingern riechts noch
trinkt eine Französin eine Coca. Ich kaufe mir auch nach ihr. Ich gehe zum Bahnhof, kaufe ein Ticket
eine, lehne mich neben sie an einen Sonnenschirm, nach Barcelona und warte aufden Zehnuhrdreiund-
frage ob sie mitkommt. Sie ist eine Jugoslawin und zwanzig-Zug nach Marseille. Es ist Sonntag 1966.
zusammen fahren wir mit dem Lift in den dritten
Stock und gehen ins Zimmer 318. Sie zieht sich
aus, legt sich ins Bett. Ich stehe am Fenster, blicke
in den Hinterhof. Di.ister, obwotrl es Sommer ist
oder zumindest eine sommerähnliche Jahreszeit.
Wenn ich da in den düsteren Hinterhof falle, würden
die Katzen da unten in die Ecken rennen und das
zuckende Fleischbündel, das ich wäre, anfauchen. Ich
drehe mich um.
Den einen Arm unter den Kopf gelegt, den andern
schräg über den Bauch, die Hand zwischen den Bei
nen. Ich setze mich auf das Bettende, streictrle ih-
ren Knöchel, ihr flimmerbehaartes Bein, ihre Hand
zwischen den Beinen. Ich stehe wieder auf, wolfe
zum Fenster. Hier irgendwo in Nizza ist das Mäd-
chen, das mich vielleicht liebt. Hinter mir ein Gluck-
sen, das Geräusch wenn eine Hand über rauhe
Schamhaare reibt. Ich spinne, denke ich. Gegen-
über auf einem Sims mickrige Geranien. Da kommt
keine Sonne hin. Geranien brauchen viel Sonne.
Die Sonne ist weit weg von diesem Hinterhof . . .
da scheint keine Sonne hin. Schmatzende Laute hin-
ter'mir. Wenn ich nur wüßte was ich mache. Fremde
Worte. Das faltige Geräusch von Leintüchern. Manch-
mal scheinen mir Sekunden zu langsam. Es ist sie-
ben Uhr abends. Blaudunkler Himmel - Kinderge-
schrei vis-ä-vis. Neun Uhr. Lichter. Fenster. Eine
Frau kreischt, ein Mann brtillt. Das zuckende Licht
einer Reklame, die ich nicht sehe. Jemand schüttet
Matthyas Jenny ist ziemlich viel unterwegs: Istanbul, New
Abf?ille aus einem Fenster, unten ein Fauchen und York City, Los Angeles & überall wo sonst noch was los ist.
das fast nicht hörbare Jagen nach Abfiillen. Elf LIhr. Veröffentlichungen: CITY STRAIGHT UP u.a. Chefpilot
Das phosphoreszierende Licht meiner Armbanduhr. der NACHTMASCHINE. Wenn er beim siebten Whiskysoda
etwas gesprächiger wird, eruählt q beispielsweise vom Can-
Ich gehe auf und ab. Das Mädchen liegt wie eine dy Club in Amsterdam oder was vor drei Tagen grad in
Leiche unter dem Leintuch. Ein Llhr. Auf dem Mannheim abging oder vor zwei Tagen in Basel, was alles
wackligen Nachttischchen zwischen Taschentuch, irgendwie ins Konzept seines Romans paßt, an dem er gera-
Mikrzen, Fahrplan, ein Zettelchen vom Spitalarzt. de arbeitet . . . Spurensicherung in Zeit und Raum . . .
Sonntag 1966 c by Matthyas Jenny
Mit roter Schrift: Kein Alkohol, keine Zigarctten,
2t