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IRENE TtIDTENHOFER                                    Gesichter. Sie hatte leichte Leibschmerzen  wegen  der Regel
                                                              und fror deshalb vielleicht etwas stärker. Die Erwachsenen
                                                              trugen alle Jacken,  Umhänge,  Tücher, nur die Kinder  liefen
                                                              barfuß  umher.  Ihnen  schien  die Kälte nichts auszumachen.
                                                              Düfte,  Gerüche,  Rauch und Dünste drangen  aus den Fen-
                                                              stern, eine tausendfache  Vielfalt  an Lauten und Klängen,
                                                              Geräuschen und Geknatter,  Geklopfe  und Geschnattere
                                                              tönte von überall her.
                                                                Irene ging nach dem Ohr, nach den Augen, nach der
                                                              Nase. Sie wollte  keinen Stadtplan,  wenn es von diesem  La-
                                                              byrinth aus Wegen, Gassen und Hinterhöfen,  düsteren Gän-
                                                              gen, in denen  eilige  Schatten  um die Ecke bogen, überhaupt
                                                              einen  Plan  gab. Was sie suchte, dafilr brauchte sie keinerlei
                                                              Pläne.  Das Leben war Spiel und Zufall, dachte sie. Sie hatte
                                                              den ganzen TagZeit, nichts vor und mußte nur bis abends
                                                              um elf das Flugzeug  irgendwie erreichen. Jetzl  war es erst
                                                              Mittagszeit.  Sie kaufte ein Fladenbrot und Früchte. Da es
                                                              nirgends ein Plätzchen zum Hinhocken gab, aß sie im Ge-
                                                              hen und gelangte  auf einmal auf eine breite Straße, in der
                                                              es Palmen zwischen dem  Gehweg  und der Fahrbahn  gab,
                                                              und die Boulevard hieß. Die Autos hupten und wirbelten
                                                              Staubwolken  auf. Irene lief stadtauswärts,  in die Richtung
                                                              der hohen lehmfarbenen  Stadtmauem,  vorbei an Plätzer,
                                                              Moscheen,  unbebautem Gelände,  auf dem Unkraut und
                                                              Bilsche wuchsen.  Kamele standen  zwischen zwei  hohen  Pal-
                                                              men. Die Sonne schien matt, wärmte kaum. Es war Januar.
                                                                Vor der Moschee,  um deren  niedrige Ummauerung sich
                                                              unbebautes Areal erstreckte, stand ein Junge. Er mochte
                                                              sechzehn Jahre alt gewesen  sein, hatte kurzgeschorenes
                                                              dunkles Haar. Sie gSng  ganz langsam in seine Richtung.  Sie
                                                              bewegte sich auf einer Linie, deren Krümmung  direkt  auf
                                                              den Jungen  zusteuern,  aber auch in einigen  Metern Entfer-
                                                              nung vor ihm verlaufen konnte. Sie war noch nicht an dem  t
                                                                                                                      t
                                                              Punkt angelangt, wo sie ihren Schritten  eine eindeutige  I
                                                              Richtung geben mußte. Auch der Junge stand  unsctrlüssig  ! t
                                                                                                                      I
         Die spanische  Chartermaschine  landete  gegen 10 Uhr vor-  da, hob etwas von der staubigen  Erde auf und hätte mit der  t
         mittags auf dem Flughafen  von Marrakesch.  Es war ein klei-  nächsten Bewegung  ebensogut  loslaufen können.  )
         nes, höchstens  achtzig Passagiere  fassendes  Flugzeug, das  ,,Hi!  American?",  sagte er. Irene schüttelte den Kopf  i
         gerade  mit einem ziemlichen  Rucker aufsetzte, sodaß  die  und schritt  zögemd  weiter.                     h
         Tragflächen  wackelten.  Irene atmete auf, die Fluggäste  ,,German?" wollte  er wissen.  Irene lächelte  und schüttel-  t
         klatschten. Urlauber von TUI, Neckermann  und wie die  te den Kopf. Sie blieb stehen, wenige Schritte von ihm ent-  T a
         Veranstalter  alle heißen, Urlauber, die fiir einen  Tag nach  fernt. Er zallte jetzt sämtliche Ländernamen auf, die er  r
         Afrika fliegen,  um einen Basar,  Teppichverkäufer,  Schlan-  kannte. Viele waren's  nicht, und lrene mußte lachen,  über  & ä
         genbeschwörer  und ein Abendessen  mit Bauchtanz  und ma-  sein erstauntes Gesicht lachen,  ais sie jedesmal vemeinte.  it t-
         rokkanischer Folklore zu erleben.  Vom  Flughafen fuhr ein  Ich bin nur eine Frau, dachte sie. Irene, das war einmal
         Transferbus  in die Stadt, arn Mikrophon  begrtißte ein Reise-  die Göttin des Friedens,  dachte  sie. Aber sie sagte es nicht.  T g
         fifürer in Djellaba  die Ausflügler,  machte  ein paar Witzchen,  Dieser Gedankengang,  der so weit weg fiihrte  von allen  I I
         nannte  einige Fakten,  sprach über den Koran,  über den  Staatsangehörigkeiten,  Paßnummem,  Geburtsdaten,  von der  Ä
         König  und über das Wetter.  Nach einer halben  Stunde  hielt  Erfassung  von Personen auf Papier,  im Computer...  Dieser  :
         der Bus am Stadtrand bei einer Tierfellgerberei, die Insassen  Gedankenfaden sponn sich hin zu einer anderen  Art von  l
         stiegen  zur Besichtigung aus. Irene schaute sich eine Weile  Identität, in der sie sich phantasierend  selber schuf, in der  I
         das Bild an, wie die Felle in den Bottichen  bearbeitet wur-  sie ganz selbst war, umschlungen  nur von der einzigartigen  r
         den, wartete, bis die Reisegruppe  wieder in Richtung  Bus  Vielfalt ihrer Identität.                        t E
         gebeten  wurde, und schritt auf eine schmale Gasse zu.  Zögend  verlagerte  sie ihr Gesicht,  schickte sich an wei-  ü
           Sie war 20 und hatte null Bock,  sich in Königspalästen  terzugehen. Sie fand  den Jungen  nicht unsympathisch. Ihr  t
         oder bei Verkaufsveranstaltungen  der heimischen  Folklore-  schien nur auf einmal eine Begegnung  so unmöglich,  als ob  b
         industrie zu langweilen.  Sie hatte Sandalen  an, eine Pump-  sie in einem  Gespräch  fürem Gesprächspartner  erklären  woll-  I ! !
         hose, Bluse und ein Tuch.  Es wehte ein scharfer  Wind von  te, daß sie insofern  eine andere Realität  sei, weil sie sich in  t
         Norden  aus den Bergen.  Irenes nackte Fiße und die Hände  die Unterhaltung  nur hineinschriebe.             I
         froren. Das leichte,  selbstgestrickte  Tuch, darunter sie  Da unterbrach  der Junge Irenes Gedankenläufe  und frag-  [- t
         manchmal  die eine Hand  barg, hielt kaum etwas von dem  te, ob sie Haschisch kaufen wolle.                  L
         Wind ab. Sie lief zwischen den Lehmhütten, warf durch die  Sie nickte mit dem Kopf.  Sie nickte gaaz sicher  nicht,  i t
         Türen Blicke in enge,  lehmbödige Geschäfte,  wich Pfützen,  weil Shit der Grund ihres Eintagestrips  gewesen  wäre. Sie  c
         Eseldreck,  Eseln und Mopeds  aus, sah Menschen in die  sah ihm ins Gesicht. Die Haut war dunkelbraun  und hatte
                                                                                                                      t
                                                                                                                      !
                                                                                                                      t
                                                                                                                      i
                                                                                                                      {
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