Page 27 - gasolin#08

Mürbe gerittenes Fleisch. Gedanken zu Adlern zu Un-
me des Abteils und die Laufruhe des Wagens. Mein Befin-
glück zu Friedenstauben zu Heimkehren zu Dableiben zu
den im Verhältnis zum Geruch des Abteils...
Sein zu Stille. Aufgetischt und Niedergeschlagen. Einmal
Das Buch, das ich lese, in seiner Beziehung zur Farbe der
werde ich schreiben: Mädchen, wo rennen wir denn hin.
Gegend, durch die wir fahren. Die der Schafiner zu meinen
Dafür leben wir nicht.
Freunden. Die Gesichter, Körper, Gliedmaßen der anderen.
Banalität zu Socken zerpflückt und ein verdauender
Mein Gesicht, meine Beine, meine Hände.
Magen, lange ersehntes Wohlsein. Eine stolze Häßlichkeit.
Ich versuchte aus diesen immer wieder auftretenden
Kalt ist es draußen. Ich freue mich auf ein zeitlich noch
Umständen etwas fiir mich herauszufiltrieren. Ich suchte
nicht festgelegtes Bad. Meine kalten Füße.
nach einem Grund. Mein Verlangen nach Zusammenhän-
Die Gedanken. Eit Zug führt ja nicht eigentlich, er rollt.
gen trieb mich an. Zugfahren als Suche und als Flucht, als
Von Bahnhof zu Bahnhof, und nichts nervt so wie ein Halt
ständiges In-Bewegung-Sein. Als Steigerung und als Dämp-
auf freier Strecke. Je mehr ich fuhr, desto öfter sah ich fung.
mich in der gleichen Situation unter gleichen Bedingungen Mit jedem Kilometer zurückgelegter Schienenstrecke
wie früher schon einmal. glaube ich die Totalität eines doch anfangs unverbindlichen
Die Leute im Innem, die Landschaft draußen. Worte als
und.einfachen Vorgangs wie Zugfahren zu spüren. Ich wage
kämen sie in beliebiger Reihenfolge gemischt mit anderen
es nicht mehr, diesen Zustand, diese Tätigkeit anderen un-
Geräuschen. Meine Situation im Zusammenhang mit dem terzuordnen.
Typ aus der Mini-Bar. Wie sehe ich aus, wenn Leute mich Spinoza sagte in Bezug aufdie Tugend, daß sie nichtzur
ansprechen? Die Anzahl der von mir belegten plätze in Erreichung des Glücks notwendig ist, sondern selbst das
Bezug auf die Uhrzeit, Jahreszeit, Zeit überhaupt? Glück ist.
Sitznummern zu den zurückgelegten Strecken. Die Wär- Zugfahren ist keine Metapher!
JUREEN SCHNITZLER
ffi DU]IKIERALSBIAU=

In einem Fernzug, der fast leer vom Hauptbahnhof zur End- Draußen nahm ihn ein Taxi auf. Aus dem Radio quoll
station Altona fuhr, fand Rabe zwischen den Polstem eines eine pompöse Opernmusik, in der er sich aufgehen ließ. In
Erster-Klasse-Abteils 20 Mark und zwei Karten fit ein Box- den Kurven drückte die Fliehkraft ihn weich an die Tür, bis
turnier in der Emst-Merck-Ha1le. Als er dort ankam, buhte er sich vorstellte, daß sie nachgab und autging und er durch
das Publikum gerade zwei Boxer aus, die nur noch aneinan- ärmliche Nebenstraßen ins Nichts eines flaihen Landes flog.
dergelehnt und mit baumelnden Armen im Ring stehen Ein Hochhaus am Stadtrand war die Adresse des perseri.
konnten. Nicht das, was Rabe sich ausgemalt hatte: Eine schäbige
In einem der unterirdischen Klos fand Rabe einen Mann Villa, ein Eckzimmer im obersten Stock, vier Fensterkreuze
vom persischen Typ, der wie schlafend dasaß, eine leere in Blau und eine Mafiatze, ein Radio daneben.in dem eine
Spritze im Arm. In dem Kofferradio, das zwischen seinen Stimme ,,C'est une poupöe qui lait non" singen würde;eine
Beinen auf dem Boden stand, sang halb ertrunken in diffu- Puppe, die nein sagt.
sen Geräuschen eine Sängerin Oper. Rabe filzte das dunkel- Auf der Rückfahrt lag Rabe allein in einem Liegewagen-
blaue Jackett, das an der Tür hing, und fand ein päckchen abteil und schlief. Einmal wachte er schweißnaß und duritig
mit Heroin, einen italienischen Paß, 200 Mark, ein Schlüs- auf und ging in den Speisewagen,wo auf den Tischen Kerzen
selbund und eine Rückfahrkarte Milano-Amburgo. im Sonnenlicht brannten. Er sah niemand an und schrieb;
In dem Nachtzug, der nach Italien fuhr, benutzte er die ,,Ich gehe mit kleinen steifen Schritten, und in zehn Jahren
Spritze des Persers, spritzte dann etwas Blut über die Klo- werde ich vielleicht tot sein."
tür und schrieb darunter: ,,Ich bin stärker als Krankheit und In Hamburg besuchte er wieder Anita, nahm für, wäh-
Tod". rend sie Essen kochte, 800 Mark aus dem Nähkasten und
Dann fand er sich lachhaft und träumte im bläulichen schlich sich aus ihrer Wohnung.
Nachflicht seines Abteils von einem Tod in einem Hühner- Draußen nahm er ein Taxi und 1ieß sich zum Flughafen
stall am windigen Stadtrand von Addis Abeba. bringen, um sich nach Istanbul fliegen zu lassen. WlJlelcht
Im Bahnhof von Mailand unter den unmenschlich hohen alles ging!
Säulen im klassischen Stil kam er sich klein und verloren Im Flugzeug schlief er wieder. Einmal wachte er auf und
vor, wäre am liebsten wieder nach Hause gefahren, aber es
glaubte, im Traum ein Mädchen geworden zu sein, das
fuhr kein Zugmehr-Der Nachtportier eines Hotels am Bahn- blond, faul und verstohlen war, Dodo, so ließ er sich über
hofsvorplatz taxierte ihn gleichgiiltig von oben bis unten die Erde tragen.
-
schwarze Lederjacke, Jeans und hellbraune Halbstiefel und In Istanbul, wo er zehn Tage in einem armseligen Hotel
-
gab ihm einZimmer. an der Blauen Moschee wohnte, wurde er immer schwäche,
Zum Frühstück saß Rabe in einer Halle unter schwarzver- und schwerer, bis er nur noch Milch und Opium trank und
schnörkelten Säulen,weichte im Tee siße Kekse ein und zer- sein Urin fast schwarz war, dann flog er nach Hamburg zu_
drückte sie mit der Zunge unterm Gaumen. rück und ließ sich ins Krankenhaus bringen.
Als eine Gruppe von älteren Amerikanerinnen herein-
kam, nutzte er die Gelegenheit, unbemerkt am Portier vor-
bei auf die Straße zu kommen.

27