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,,Die Aufnahmen als Geisha machen wir morgen. Ich bin ge-
schafft! Schluß fiir heute."
Tanner winkte seinem Assistenten und gab ihm ein paar
Anweisungen für den nächsten Tag. Dann ging er nach ne-
benan in die Küche und machte sich einen Kaffee. Er setzte
sich wieder ins Studio an einen der Leuchttische und sah
sich die Polaroids an, die er vor ein paar Stunden gemacht
hatte.
Valerie halbnackt mit Aloahe-Lächeln und einem Blu-
menkranz um die Schultern, Valerie als Prostituierte in
einer Marseiller Hafenkneipe mit dem erschreckten Aus-
druck einer Nachtwandlerin, die unsanft aus ihrem Zustand
geweckt worden ist. Valerie mit der klassischen Frisur der
Geishas, der Taka-Shimada. Immer geht sie die Verwand-
lung nur halb ein, dachte Tanner, als wenn sie jeden Moment
die nächste Stufe einer Mutation erreichen und neue Eigen-
schaften dazugewinnen würde, während sie alte abstreifte.
Sie durcheilt wie ein Fisch die Ströme meiner Fantasien
und läßt mich meilenweit zurück mit dieser Handvoll Bil-
der. Sie ist wie ein Rasiermesser, dessen Schneide bei jeder
Benutzung abzubrechen droht. Wie die Forelle, die aus dem
Wasser herausgenommen, ein zarter Fisch ist, der leicht
stirbt. . .
Sie braucht meine Fantasien, um zu schwimrnen, dachte
Tanner bitter, und ich selber seh'ihr zu und kann nicht hin-
terherspringen.
Gestern war sie ein Hawaii-Girl aus einem Plattencover
der 50er Jahre, heute die Dame in Rot, und morgen spielt
sie eine kommunistische Spionin aus dem 2. Weltkrieg.
Tanner löschte die Lichter im Studio und winkte auf der
Straße einem Taxi. ,,Cafö I'Etage" sagte er zu dem Fahrer
und ließ sich in den Sitz zurückfallen. Er schloß die Augen
und versuchte sich zu entspannen.
Ein paar Meter über dem Straßendunst fütrlte Tanner sich
geborgen; sobald die erste Tür hinter ihm zugefallen war
und er im Treppenhaus stand, hätte er blind weitergehen
Erwecke nie den Eindruck können. Er war so oft hier gewesen, daß er die 23 Stufen
als seiest du einer Sache sicher am Knarren ihrer Holzdielen voneinander unterscheiden zu
können glaubte.
Trotzdem seilte er sich an, indem er seine Rechte aufdas
Geländer legte und sich dann langsam und vorsichtig, als
zögere er noch, das Lokal zu betreten, nach oben bewegte.
Und dann erscheint wie auf ein geheimes Zeichen die Dame Das Restaurant und Cafd l'Etage hatte etwas von der At-
in Rot. mosphäre eines Kinofoyers aus den Fünfziger Jahren. Die
Und obwohl Tanner die Szene schon mehrere Male gese- gedämpften Schritte der Kellner klopften den Boden ab,
hen hat und alles bis ins letzte Detail kennt, muß er immer das Teakmobiliar lud dazu ein, mit den Händen seine Art-
wieder die geschickte Arbeit des Maskenbildners bewundern. Deco-Rundungen nachzuformen. In den Mokkatassen schau-
Valerie wirkte halb europäisch, halb asiatisch. Je nach kelten die Kronleuchter, die dem Raum premierenstim-
der sie umgebenden Kulisse änderte sich ihre Mimik, ihre mung verliehen.,,Lichter untergehender Schiffe", dachte
Gesten. Man sah sie sich herauslösen aus einer Rückprojek- Tanner, während er sich eine Zigarette drehte.
tion, dle die Champs-Elysdes zeigt; mit einer schnellen Be- Als er sein Feuerzeug aus der Tasche zog, frel ihm die
wegung streift sie das rote Kleid ab und zieht wieder ihr Visitenkarte heraus, die Dr. Vidoque ihm vor Jahren in
altes Kostiirn an. Der Assistent tritt aus dem Schatten her- Tokyo bei ihrer ersten Begegnung gegeben hatte. Die Meishi
vor und schaltet die Scheinwerfer aus. Tanner, der Foto- war zweisprachig gewesen, daran konnte sich Tanner noch
graf , ziehl die Kassette aus der Kamera und wendet sich an gut erinnern. Und außer Hakase (Doktor) konnte er damals
Valerie, die vor einem Spiegel ihre Lidschatten nachzieht. kein einziges Kanji-Zeichen...
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