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Das ist besonders im Genre der Streetfo- Dein Moralkompass für die Straßenfotogra-
tografie vorzufinden. Unsere Taten sind fie bist du selbst. Hinterfrage deine Be-
unsere Bilder. Es sind authentische Mo- weggründe und Absichten für ein Bild in
mente, die wir mit der Kamera einfangen solchen Augenblicken. Zeige Respekt, in-
und die wir der Gesellschaft, in der wir le- dem du Rücksicht nimmst und in unein-
ben, vor Augen führen, indem wir die Bil- deutigen Situationen auf dein Gefühl hörst.
der veröffentlichen. Unsere Absicht in der Straßenfotografie
sollte es sein, der Schönheit des Alltagsle-
In der Streetfotografie ist es besonders bens eine Seele zu geben.
wichtig, seine fotografischen Motive zu
respektieren. Kamal habe ich in Mailand getroffen – o-
der vielmehr: eigentlich hat Kamal mich
Jedes Bild hat eine Geschichte getroffen. Er sprach mich an einem eisigen
Tag im Februar an und fragte sehr höflich
Ich kann mich noch genau daran erinnern, nach etwas Kleingeld. Zuerst war ich scho-
als ich den Moment im Foto eingefangen ckiert über sein Aussehen, aber seine
habe. Ich war auf dem Nachhauseweg von überaus freundliche, offene Art ließ diesen
der Arbeit. Ich hatte die Kamera in der ersten Eindruck sofort wieder verblassen.
Hand und hielt nach Motiven in meiner Da ich mich für solche Momente vorbereite
Stadt Ausschau. Im Vorbeigehen fiel mir und immer Kleingeld in der Hosentasche
plötzlich diese sitzende, in sich versunkene habe, gab ich ihm das Geld. Ohne lange zu
Person auf. Die in einer Linie aufgereihten überlegen, machte ich mein Foto. Wir
Mülltonnen passten in meinen Augen per- wechselten noch ein paar Worte und gin-
fekt zu der Niedergeschlagenheit des Men- gen beide zufrieden unserer Wege. Trotz
schen, der dort kauerte. Mir war sofort seines Aussehens und seiner offensichtli-
klar, dass ich ein Bild machen musste. Be- chen Notlage war für mich sofort erkenn-
vor ich in den Kameramonitor schaute, bar, dass Kamal ein besonderer Mensch
vergewisserte ich mich, dass mich nie- ist.
mand beobachtete, denn ich wollte mein
Foto ungestört machen. Hin und wieder
habe ich die Erfahrung gemacht, dass Pas-
santen oder andere unbeteiligte Personen
sich daran störten, wenn ich ein Foto
machte. Man warf mir vor, dass es mora-
lisch verwerflich sei, diese Aufnahmen zu
machen. Wenn ich gerade ein gutes Motiv
gefunden habe, versuche ich deshalb, sol-
chen Diskussionen aus dem Weg zu gehen.
Zu einem Gespräch nach der Aufnahme bin
ich gerne bereit, aber nicht ausgerechnet
dann, wenn ich das Bild förmlich vor Augen
habe und Gefahr laufe, dass der Moment
vorbeizieht und ich die Aufnahme nicht
mehr bekomme.
Um das zu umgehen, musste es schnell
gehen: Ich hockte mich hin, gestaltete das
Bild und drückte auf den Auslöser. Das Fo-
to, das dabei entstand, ist aus meiner Per-
spektive ein Volltreffer. Es hat eine klare
Aussage und respektiert gleichzeitig die
aufgenommene Person, denn sie ist auf-
grund ihrer Haltung unkenntlich.