Page 38 - gasolin#09
P. 38
"Dallas liegt in der Nähe von Düsseldorf und Den- Tiefflieger warcr. Eanz anderer Art: lautlos segelten sie zwi-
F ver gleich hinter Starnberg", sagte ich. schen Baumwipfeln oder stürzten sich als silberne Punkte vom
R Der Kid neben mir sagte nichts. Es war zu laut im Himmel und es knatterte, bevor man sich auf den Boden wer-
fr Wagen. Die letzten Sommertage, erste welke Blät- fen konnte.
ter. Der Herbst, die deutsche Jahreszeit, ist immer
Einmal habe ich im Schwimmbad doch nach Linda getaucht,
i/ nah. sie schwamm in einem rechteckig geschnittenen Badeanzug
v "Deutschland kann man eigentlich gar nicht sa- über mich weg wie ein Kanonenboot. Vor Schreck hab ich so
gen'r, sagte der Kid nach einer Weile. "Weil es zwei
viel Wasser geschluckt, daß ich mich hinterherübergeben muß-
gibt. Außerdem sagen 'Deutschland' nur Leute mit te.
e grauen Haaren und dunklen Anzügen." "Depp", sagte Linda bloß.
"Stimmt ja. Deutschland, das klingt immer nach
fr Vergangenheit. Man miißte eine ganz andere Be- Das Frühjahr kam und die Deutschen kapitulierten, was ein-
P zeichnung finden, etwas, das nach Wintermärchen fach so aussah, daß plötdich mehr amerikanische Soldaten da
waren als deutsche. "Chewing gum?" Mein Vater schickte mich
klingt."
u "Wie war denn das damals, als du das erste Mal her- Kippen sammeln, die die Amis großzügig wegwarfen, Ich wuß-
e kamst?" fragte er. te genau, was ein Spießer war (das waren Leute wie der Apothe-
I "Beschissen", sagte ich. Ein dicker BMW war hin- ker, die sich in alles einmischten und bei der kleinsten Kleinig-
keit unangenehm wurden und alles besser wußten). Auch wenn
ter uns her, ich mußte eine Lücke zwischen den
, Lastwagen suchen, um nicht unter seiner Kühler- man keinen näheren Umgang mit Amis hatte, war doch klar,
haube zu verschwinden. daß die sich jenseits solcher Kategorien bewegten. Ein ganz an-
"Die Nachkriegszeit?" deres Gefühl, dieses amerikanische ... jedenfalls sah das so aus.
"Die Nachkriegszeit und auch das, was nachher kam. Alles än- Etwas war unwiederbringlich auseinandergefallen ... der deut-
dert sich, aber wenn man genau hinschaut, dann ist es fast sche Mann, die deutsche Fra\ dos deutsche Gefiihl. AlsDettt-
nichts. Früher traten die Lehrer in Stehkragen aufund waren scher konnte man sich nicht fühlen, bestenfalls als Nicht-Deut-
unangenehm. Heute haben sie Rollkragenpullover." I
"Vielleicht gehörst du einfach nicht hierher. Vielleicht bist du I
a
einer von denen, die nur auf Durchreise sind." Das waren I
wuchtige Worte, und er sprach sie gelassen aus, der Kid. Wie
jemand, dem es gleichgültig ist, was gestern geschehen ist oder
morgen passieren wird.
Vielleicht hätte ich ihm von meinen Reisen erzählen sollen,
aber in Deutschland leben, das war auch eine Reise. Aber dar-
über redete man nicht, das wurde hingenommen wie etwas, das
eben nicht zu ändern ist. Der deutsche Song, den gab es einfach
nicht, obwohl er mir dauemd in den Ohren klingt oder nicht?
Das sind Echos, sagte ich mir und Echos verwirren leicht, man
weiß nie, wo sie herkommen, Ein gewaltiges geschichtliches
Echo, das über der Gegenwart hing. Die offizielle Version von
Geschichte, dieses nationale Nachschlagewerk, wo alles im
Nachhinein geschieht, interessierte mich nicht. Eher schon die
triviale Ausgabe, wo es wirklich passiert und der heroische
Nichtheld eine Rolle spielt und wenn nicht, dann wird es höch-
ste Zeit, daß er endlich eingeschmuggelt wird.
Girls, in Kennerkreisen auch Frolleins genannt. Sie waren
stämmig gebaut, so als wären sie schon voll ausgerüstet auf die
Welt gekommen, während ich mich damit abmühte, meinen er- scher, und niemand wußte, was das war. Bei Hemingway gab es
sten Anzug zu füllen und den Verwirrungen des Aufwachsens Gefühl, bei Henry Miller, auch bei Sartre und Camus. Ob es
zu entgehn. Einmal, in einer dieser langweiligen Vorstadtstra- das wirklich irgendwo gab, was man da [as?
ßen mit Kinos, Eisdielen und Spielsalons, Iing mich eine ab, die Sicher. Erst später lernte ich, die Frage umzudrehen: gab es
ich aus der Schule kannte, und lächelte mich herausfordernd wirklich etwas, was nicht irgendwo geschrieben stand? Seltsa-
an. Als ich glaubte, sie in der dunklen Ecke neben einem Seiten- me Bemerkungen Gottfried Benns, wenn er in einem Neben-
ausgang des Kinos so weit zu haben, sagte sie: "Gehn wir satz von seinen Erfahrungen als Schiffsarzt spricht, "von der
schwimmen. Im Wasser ist das alles viel aufregender." Einfahrt in New Yoik und dem Anlegen in Hoboken" ... oder
In diesem Augenblick trat der Apotheker des Orts aus seiner Camus' Sehnsucht "nach dem Leben anderer" oder ist das
K[tsche (anscheinend hatte er uns schon eine Weile beobach- schon Wühlen im Schutt? Facetten von der umwerfenden Wir-
tet) und rief über die Straße: "Macht ihr denn da?" kung sich überschneidender Erfahrungen, auch Reeducation
"Nichts", sagte ich, was ziemlich genau den Sachverhalt traf. genannt, über deren sentimentale Seite man heute nicht mehr
Nach dem Bastelkurs stellten sich mir ein paar Pimpfe in den spricht.
Weg, drückten mich in eine Nische des Wirtshauses nebenan, Ein alter Jeep rast über eine verwackelte Voralpenlandschaft,
starrten mich mit leeren Gesichtern an, bevor sie losschlugen Geldscheine flattern über den schwarz-rot-goldenen Himmel
(sie hatten anscheinend mitbekommen, daß ich ein paar Holz- ... barfüßige Kinder stürzen sich auf verstreut herumliegende
leisten unter Hose und Pullover geschoben hatte, mit denen ich Süßigkeiten und Kippen ...
zuhause meine eigenen Pläne hatte) ... ihr Anführer ein Typ,
der später mit einem Karabinerauf Tielflieger zielte //l|,lit einem schlecht ausgerüsteten Es begab sich der Kid auf
und kotzig schrie, er werde schon noch einen run- Reisen. Er sah auch Nordamerika, die Einfahrt von Manhattan
terholen... morgens nach stürmischen Tagen auf See, die schnurgeraden
!a tt
E
L