Augsburg, 3. Oktober 2016. Es regnete und es war kalt. Der Herbst hatte wohl nun endgültig Einzug erhalten. Ich schnappte mir meine kleine, aber feine Sony RX100II, zog mich warm an und wagte mich vor die Haustüre. In der linken Hand hatte ich eine roséfarbene Karte mit der Aufschrift “Pantone 4685”, in der rechten einen Regenschirm und die Kamera. “Das kann ja heiter werden”, schoss mir in diesem Augenblick durch den Kopf. „Aber zum Glück hat ja so gut wie jedes zweite Haus die Farbe, die es heute zu finden gilt”. Die folgenden zwei Stunden sollten mich jedoch eines Besseren belehren.
Das erste Haus, gegen das ich die Farbkarte hielt, war mehr creme- als roséfarben. Beim zweiten hatte der Maler wohl etwas zu viel Rot in den Farbeimer gekippt. Zu meinem dritten Versuch gibt es schließlich nicht viel mehr zu sagen, als dass mir mein Augenarzt beim Anblick des Ergebnisses vermutlich sofort Farbenblindheit attestiert hätte. So ging es eine ganze Weile. Ich lief durch die Straßen und hielt die Farbkarte gegen Fassaden, Kleidungsstücke und alles, was mir sonst noch auf meiner “Jagd” vor die Linse kam.
Kurz vor Anbruch der Dunkelheit dann die Erleichterung. An einem Haus, an dem ich zuvor bestimmt schon zwei Mal vorbei gelaufen bin, passten Fassade auf einmal der Farbton meiner Karte und der der wie die Faust aufs Auge zusammen. Ich überlegte mir, wie ich die Karte in geeigneter Weise ins Bild integrieren konnte, wartete auf einen Passanten und schwupps war das Bild im Kasten – so einfach kann es sein. Doch warum bin ich dann über zwei Stunden durch die Gegend geirrt und sogar mehrmals an der Stelle vorbeigelaufen? Hatte ich tatsächlich die Farbe übersehen oder gar nicht wahrgenommen? Oder waren es womöglich die veränderten Lichtverhältnisse, die auf einmal die beiden Farben zur Deckung brachten?
Der ein oder andere Leser wird sich jetzt zurecht fragen, wieso ich bei strömendem Regen zwei Stunden umherirre und versuche, diese eine Farbe zu finden und sich fragen, was es überhaupt mit dieser Farbkarte auf sich hat.
Die “Farbenjagd”, wie ich sie getauft habe, ist als ein Experiment bzw. eine Lernaufgabe zu sehen und Teil meines 365-Tage-Projekts “zweisichtig”. Zusammen mit Tilo Schaffrik, einem guten Freund, den ich noch aus der Schulzeit kenne, haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, über ein Jahr hinweg jeden Tag, zu einem wöchentlich wechselnden Thema, ein Foto zu schießen. Übergeordnetes Ziel dieses Projektes war es, sowohl den technischen und gestalterischen Methodenkoffer auszubauen als auch die eigene Wahrnehmung in Bezug auf die alltäglichen Dinge zu schärfen. Die gewählten Themen aus den Kategorien “Technik & Bildgestaltung”, “Greifbar & Konkret”, “Werte & Emotionen” sowie “Dies & Das” sollten dabei als Richtungsweiser und Leitplanken fungieren, uns aber auch ständig aufs Neue motivieren, dieses ambitionierte Fotoprojekt zu meistern.
In der Kategorie “Greifbar & Konkret” galt es nun in der Themenwoche Nummer 40 von Montag bis Freitag jeweils eine zuvor festgelegte Farbe zu “jagen”. Bei der Umsetzung mit den Pantone-Farbkarten ließ ich mich von Rüdiger Trost inspirieren, der mit dieser Idee unter anderem beim Münchner Fotomarathon 2014 angetreten ist. Einfach mal nach seiner Serie googeln, es lohnt sich. Die Farbkarten wurden von Tilo und mir abwechselnd per Zufall aus dem 100 Postkarten umfassenden Pantone-Set gezogen. Entsprechend groß war die Aufregung jeden Abend, wenn bekannt wurde, welche Farbe den darauffolgenden Tag bestimmen wird.
Für mein auf Schwarz-Weiß getrimmtes Auge war die Woche eine wahre Herausforderung. Überraschenderweise empfand ich es gar nicht mal so schwer, die entsprechenden Farben auf der Straße aufzuspüren. Unsere Welt ist ja mittlerweile bunt genug, dass sich auch die ausgefallensten Farbtöne irgendwo wiederfinden lassen. Was mir weitaus größere Schwierigkeiten bereitet hat, war die unterschiedliche Farbwahrnehmung von meinem Auge (streng genommen ja eigentlich von meinem Gehirn) und dem Sensor meiner Kamera. Ein besonders starker Einfluss ging von den vorherrschenden Lichtverhältnissen aus. Schon bei meinem Streifzug am ersten Tag stellte ich fest, dass Farben, die auf den ersten Blick identisch erschienen, auf dem Kameradisplay plötzlich Welten auseinander lagen. Deutlich zum Tragen kam dies, wenn sich das Motiv in der Sonne und ich mich mit der Farbkarte aber im Schatten befand. Ein Schritt ins Helle oder aber ein leichtes Kippen der Farbkarten konnte hier manchmal schon ausreichen, um die gesuchte Farbe mit der gefundenen zur Deckung zu bringen.
Dem Farbfotografen mag all dies bekannt sein. Mir aber eröffnete sich dadurch ein völlig neuer Blick auf die Dinge um mich herum. Straßenzüge, die ich im Zuge meines 365-Tage-Projektes schon hunderte Male mit der Kamera ins Visier nahm, erschienen auf einmal in einem ganz neuen Licht. Ein Phänomen, das ich so auch in vielen anderen Themenwochen erlebt habe.
Sich selbst Aufgaben aufzuerlegen hat für mich aber noch einen ganz anderen Charakter. Wenn ich für gewöhnlich mit meiner Kamera auf der Straße unterwegs bin, entstehen die meisten Bilder intuitiv aus dem Bauch heraus. Das funktioniert bisweilen auch ausgesprochen gut. Dabei greife ich in 95 Prozent der Fälle auf Aufnahmetechniken und Gestaltungsmittel zurück, die ich schon bei unzähligen Bildern zuvor eingesetzt habe. Die Bilder mögen dann zwar alle einen einheitlichen Stil haben, mit der Zeit kann das aber auch ganz schön langweilig werden. Was ich darüber hinaus festgestellt habe ist, dass ich bei dieser Art zu fotografieren ab einem bestimmten Grad nur noch mühsam Fortschritte erzielt habe. Meine persönliche Lernkurve begann irgendwann recht flach zu verlaufen. Sich für eine gewisse Zeit ausschließlich auf ein bestimmtes Thema zu konzentrieren kann hier ein probates Mittel sein, um dem entgegen zu wirken. Aufgaben und Projekte, die einen dazu zwingen, die eigene Komfortzone zu verlassen, können immens helfen, sich von Verhaltensmustern zu lösen, den Blickwinkel zu verändern und dadurch die persönliche Wahrnehmung zu erweitern. Neben dem Zufall sehe ich insbesondere Letzteres als eine wesentliche Grundvoraussetzung für Kreativität jeglicher Art an.
Als Maschinenbauingenieur, der sein tägliches Dasein mit dem Lösen von Problemen bestreitet, bin ich ein großer Freund von Techniken zur Förderung der Kreativität. Sowohl in beruflicher als auch fotografischer Hinsicht verstehe ich unter Kreativität die Überführung oder auch Verarbeitung von allem bisher Wahrgenommenen in etwas zuvor noch nicht Dagewesenes. Es mag daher auch wenig verwunderlich sein, dass sich Kreativität meiner Auffassung nach bis zu einem gewissen Grad durch den Einsatz entsprechender Methoden erlernen bzw. trainieren lässt. Doch auch diese Methoden gilt es zunächst zu verinnerlichen und zwar am besten isoliert voneinander. Im Kontext der Fotografie kann eine solche Methode eine Aufnahmetechnik sein, wie beispielsweise das Festhalten von Bewegungsunschärfe, oder ein Gestaltungsmittel, wie z.B. in meiner Themenwoche das Auffinden und anschließende Zusammenführen identischer Farben in einem Bild. Je vertrauter ich mit einer bestimmten Methode bin, desto intuitiver kann ich diese auch später abrufen. Habe ich eine Aufnahmetechnik oder ein Gestaltungsmittel erst einmal verinnerlicht, so gelingt es mir meist recht mühelos, das Erlernte beim Fotografieren auf der Straße anzuwenden. Die Entscheidung, in einer bestimmten Situation eine Methode bewusst einzusetzen, zu ignorieren oder gar mit anderen zu kombinieren, ergibt sich so meist von selbst.
Inwiefern nun die “Farbenjagd” Einfluss auf meine künftigen Bilder haben wird, bleibt abzuwarten. Mir hat die Woche jedenfalls großen Spaß gemacht und ich experimentiere seither schon deutlich mehr, indem ich versuche, Farbe bewusst als Gestaltungsmittel, sowohl bei der Aufnahme wie auch bei der Nachbearbeitung, einzusetzen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Themenwoche Nummer 42, in der die Aufgabe darin bestand, Silhouetten zu fotografieren. Die Umsetzung in Schwarz-Weiß war mir bei einem Großteil der Bilder schlichtweg zu langweilig. Ich spiele zudem mit dem Gedanken, das Thema “Farbenjagd” nochmals nach meinem 365-Tage-Projekt aufzugreifen. Immerhin stehen noch 93 Farben aus, die “gejagt” werden wollen. Und sind auch diese ausgeschöpft, bleibt immer noch die Möglichkeit, mehrere Farbkarten zu kombinieren oder Ausschau nach Komplementärfarben zu halten. Grenzen scheint es hier jedenfalls nicht zu geben.
Erworben habe ich die Pantone-Farbkarten übriges online bei www.buecher.de, nachdem ich zuvor schon vergeblich sämtliche Bastel- und Druckgeschäfte in Augsburg und Umgebung abgeklappert habe. Zu beachten ist, dass es die Karten wohl von mehreren Herstellern gibt, allerdings mal in besserer, mal in schlechterer Qualität. Darauf lassen jedenfalls die Rezessionen auf Amazon und Co. schließen. www.buecher.de vertreibt die Karten von Chronicles Books, mit denen ich mehr als zufrieden bin. Wer eine kostenlose Option sucht, dem rate ich in den nächstgelegen Baumarkt zu fahren. Dort liegen in der Regel Gratis-Farbmusterbögen aus, die zwar etwas kleiner als die Pantone-Karten sind, sich aber ansonsten genauso gut eignen.