Die Poesie der Puppen


Mit der Industrialisierung sind vor 150 bis 200 Jahren immer neue Warenhäuser und Geschäfte entstanden, in denen die neuen Konsumgüter angeboten wurden. Seit­dem sind Schaufensterpuppen aus dem modernen Stadtleben nicht mehr wegzu­denken und wurden schnell auch ein beliebtes Motiv in der Straßenfotografie. Unse­re stummen Freunde sind zu finden in den Bildern von Eugène Atget aus dem Paris der 1920er und in Vivian Maiers Arbeiten aus dem New York der 1950er. In Lee Friedlanders Selbstportraits tauchen sie mehrfach auf und sein Werk “Mannequins” ist den Puppen sogar ausschließlich gewidmet: Schlanke Körper verschmelzen hier mit Reflektionen in den Fenstern und der Architektur der Großstadt. Ein aktuelles Beispiel, wie Schaufensterpuppen fotografisch effektiv in Szene gesetzt werden können liefert der Holländische Instagramer @fuuji_buddy. Auch seine Bilder zeigen Lichtreflektionen und Architektur, sind aber sehr minimalistisch gehalten – sie wir­ken daher fast wie ein hypermodernes Update zu den Bildern von Friedlander. Auch jenseits dieser prominenten Beispiele tauchen Schaufensterpuppen in der Street Photography immer wieder auf. Warum also fühlten sich über die Jahrzehnte hinweg so viele Fotografen zu ihnen hingezogen? Liegt es vielleicht nur daran, dass sie – im Gegensatz zu Menschen – leichter einzufangen sind und sich im Zwei­felsfall nicht beschweren können? Oder gibt es tieferliegende Gründe – eine ganz eigene “Poesie der Puppen”? Erste Hinweise liefern Sophie Howarth and Stephen McLaren in “Street Photography Now” – einem für das Genre wegweisenden Band aus dem Jahr 2010. Sie beschreiben Schaufensterpuppen als “verspielt”, “manchmal grotesk”, als “Stellvertreter für den menschlichen Körper” und als “grundsätzlich ver­störend”. Bereits an diesen Beschreibungen wird eine deutlich, dass die Puppen eine Ambivalenz ausstrahlen, die eine große Bandbreite an Assoziationen zulässt.

Genau wie die oben genannten Fotografen habe auch ich Schaufensterpuppen im­mer wieder als attraktives Motiv erlebt. Zwar habe ich nie geplant, eine Serie zu dem Thema zu erstellen, eher schon habe ich immer wieder gute Gelegenheiten für interessante Bilder entdeckt – und mit der Weile wurden mir Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen diesen Einzelbildern klar. Im Folgenden möchte ich daher – als Beitrag zu diesem bereits lange währenden visuellen Diskurs – einige Überle­gungen anstellen, was die “Poesie der Puppen” genau ausmacht. Dabei möchte ich mich insbesondere mit zwei Aspekten beschäftigen: Der erste Aspekt betrifft die Körper der Schaufensterpuppen, die in der Straßenfotografie stets polarisierend dargestellt wurden – perfekt einerseits, defekt andererseits. Der zweite Aspekt betrifft die Eigenschaft der Schaufensterpuppen, Geschichten in uns hervorzurufen.

Körper zwischen Perfekt und Defekt

Auf den ersten Blick erinnern die Körper nackter Schaufensterpuppen an die Sta­tuen der griechischen und römischen Antike. Genau wie die alten Statuen spiegeln sie die Schönheitsideale ihrer Zeit. Interessanterweise scheint sich das Ideal des männlichen Körpers seit der Antike kaum verändert zu haben. So erinnert die kom­pakte und muskulöse männliche Figur auf der rechten Seite des nächsten Bilds an die Figur des berühmten “Hermes von Olympia”. Demgegenüber hat sich das weibli­che Körperideal stärker verändert: Heutige Schaufensterpuppen zeigen sehr schlan­ke, jugendliche Körper – während zum Beispiel die antike “Venus von Milo” noch deutlich kurviger gebaut war.

Doch in manchen Punkten hinkt der Vergleich: So wurden die Statuen der Antike von den größten Künstlern ihrer Zeit in mühevoller Arbeit handgefertigt. Sie bestan­den aus wertvollen Materialien wie Bronze oder Marmor – viele von ihnen haben die Jahrhunderte überlebt und sind auch heute noch in unseren Museen zu sehen. Und natürlich stellten antike Statuen oft Götter oder die Helden tragischer Geschichten dar –sie dienten religiösen Zwecken oder der Glorifizierung von Herrschern. Dage­gen sind heutige Schaufensterpuppen für weitaus banalere ökonomische Zwecke vorgesehen. Aufgrund dieser Profanität erscheint ihre körperliche Perfektion auch leicht oberflächlich und ambivalent: Auf der einen Seite reihen sich Schaufenster­puppen in den edlen Boutiquen der Einkaufsstraßen in den Großstädten unserer Welt. Sie tragen die feinsten Kleider der begehrtesten Marken. Ihre Funktion ist es, ein Begehren in uns zu wecken, indem wir uns vorstellen wie es wäre, diesen nob­len Anzug oder dieses ausgefallene neue Kleid zu tragen.

Auf der anderen Seite sind Puppen Massenware aus industrieller Produktion, und statt aus Marmor und Bronze sind sie im besten Fall aus Glasfaser oder gar nur aus billigem Plastik hergestellt. Und im Gegensatz zu den antiken Staturen ist ihre Le­bensspanne kurz. Nur allzu oft werden Schaufensterpuppen bereits nach kur­zer Zeit aussortiert. Sei es, weil ihre Plastikkörper erste Spuren der Abnutzung zei­gen – oder sei es, weil der schnelllebige Modezirkus nach neuen Stilen und nach Abwechslung verlangt. Aussortierte, abgenutzte Schaufensterpuppen, denen Kör­perteile fehlen sehen schnell traurig und oft auch etwas unheimlich aus. Das folgen­de Bild zeigt diese Ambivalenz – die schlanken Körper und perfekt geformten Brüste stehen hier in einem Gegensatz zu Abnutzung, fehlenden Fingern und den seltsa­men Socken.

Genau diese Spannung trägt dazu bei, dass Schaufensterpuppen als “verstörend” wahrgenommen werden. Denn sie regen uns an, sowohl über unsere schnelllebige Konsumkultur als auch über die Vergänglichkeit unserer Jugend, unserer Schönheit und unseres Daseins nachzudenken. Diesen Punkt illustrieren die nächsten beiden Bildern: Das Erste zeigt eine Schaufensterpuppe die verloren, ohne Arme und mit leerem Blick im Fenster eines offenbar schon lange verschlossenen Ladens liegt.


Das Zweite zeigt, wie zwei Männer Torso und Kopf einer Schaufensterpuppe in ei­nem Einkaufswagen wegbringen – offensichtlich hat sie ausgedient, ihren Wert ver­loren und ist auf dem Weg zu einem Friedhof den Puppen.

Dieses Bild wirft für den Betrachter möglicherweise auch Fragen auf: Was ist hier eigentlich los? Was ist mit dem armen Kerl im Wagen passiert? Und wer sind diese Typen? Diese Gedanken führen zu dem zweiten Aspekt, den ich betonen möchte.

Schaufensterpuppen laden uns ein, Geschichten zu erzählen

Natürlich sind Puppen letzten Endes unbelebte Dinge, aber sie haben den Körper­bau von Menschen und einige von ihnen weisen menschliche Gesichtszüge auf. Da­zu kommt, dass die Differenzen zwischen ihnen und echten Menschen in der Foto­grafie verschwimmen. Denn im Bild sind auch die Menschen eingefroren – und es bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen was wohl vor und nach einer dargestell­ten Szene passiert ist bzw. passieren wird. Da wir es gewöhnt sind, uns kleine Ge­schichten rund um die Menschen auszudenken, die wir in Fotografien sehen, fällt es äußerst leicht, sich auch Schaufensterpuppen als Akteure vorzustellen. In unserer Fantasie können sie ohne Probleme lebendig werden und aus ihrer Pose heraustre­ten. Dies illustriert das Bild der Puppe mit der Sonnenbrille, die sich halb im Schat­ten verbirgt.

Wir können uns die Puppe leicht als einen Mann vorstellen, der auf etwas wartet. Scheint er nicht etwas zu verbergen? Vielleicht ist er ein Gauner, der nur darauf wartet, Ärger zu machen oder ein Dealer, der darauf wartet, vorbeilaufenden Kunden Gras zu verkaufen? Oder ist er nur ein Melancholiker – der gerade in Ge­danken versunken ist und über die verrückte Welt philosophiert, in der er lebt?

Ein weiteres Beispiel liefert das Bild der kleinen Schaufensterpuppe, die sich hinter einer Zweiten zu verstecken scheint. Wir können sie uns leicht vorstellen als ängst­liches Mädchen, das sich hinter ihrer Mutter versteckt. Oder liegt auch dahinter noch eine komplexere Geschichte?

Zu guter Letzt möchte ich noch einen zweiten Blick auf das Bild der einzelnen sit­zenden Puppe werfen, die auf eine Gruppe stehender Gefährten blickt. Auch dieses Bild wirft Fragen auf: Ist er ein Außenseiter, der sich zweifelnd fragt, wie er Teil der Gruppe werden kann? Oder ist er – ganz im Gegenteil – eine mächtige Person, die auf einem Thron sitzt und darauf wartet, dass seine Untergebenen hereinkommen und ihre Anliegen vorbringen? Aber alle Akteure in dieser Szene sind nackt. Könnte es sich daher nicht auch um eine Szene in der Sauna oder gar inmitten einer Swin­ger-Party handeln?

Natürlich sehen Schaufensterpuppen nicht wirklich menschlich aus. Ihre Gesichter sind oft nur grob gezeichnet und manchmal auch gänzlich ausgelassen. Aber das ist eine gute Eigenschaft, da sie den Raum der möglichen Assoziationen noch vergrö­ßert. Sehen manche der Puppen nicht fast aus wie die Roboter in Björks Musikvideo zu „All is Full of Love“? Oder könnten sie nicht Replikanten aus den „Blade Runner“-Filmen darstellen? Wer weiß schon, was sie wirklich vorhaben und was sie hinter unserem Rücken tun? Gibt es vielleicht eine geheime Parallelgesellschaft der Schaufensterpuppen? Versammeln sie sich gar, um einen Plan gegen die Menschen auszuhecken? Wer weiß…

Um ein Fazit zu ziehen: Meiner These nach liegt die ganz eigene Anziehungskraft, die ich die „Poesie der Puppen“ nennen möchte, in dem enormen Spielraum be­gründet, den Schaufensterpuppen für Assoziationen, Geschichten und Fantasien bieten. Sie sind aufgrund ihrer menschenähnlichen Erscheinungsform eine ideale Projektionsfläche – und das ist der Grund, warum sie über Jahrzehnte hinweg immer wieder und wieder zum Motiv in der Straßenfotografie geworden sind.


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