Der letzte Sommer vor dem Krieg in der Ukraine
Am Morgen des 24. Februar 2022 sind wir — um es mit den Worten von Außenministerin Annalena Baerbock zu sagen — „in einer anderen Welt aufgewacht“. Russlands Angriff hat mit den Regeln der internationalen Ordnung gebrochen, die Menschen in der Ukraine in einen sinnlosen Krieg gestürzt und bereits nach wenigen Tagen und Wochen unermessliche Zerstörung angerichtet. Wie wir alle bin auch ich immer noch geschockt — von Putins in meinen Augen narzisstischem Größenwahn. Von dem Leiden, das der Krieg über die Zivilbevölkerung bringt und der Ungewissheit der Perspektiven für Sicherheit und Ordnung in Europa. Dass in der Ukraine nun Krieg herrscht, hat mich besonders berührt, weil ich das Land vor Kurzem noch besucht und die Menschen als weltoffen, friedlich und herzlich erlebt hatte. In diesem Beitrag möchte ich daher die Gelegenheit nutzen, meine Eindrücke aus diesem letzten Sommer vor dem Krieg in der Ukraine zu zeigen.
Im August 2021 hatte ich nach 1 1/2 Jahren pandemiebedingter Zurückhaltung beim Reisen Lust darauf, wieder etwas zu erleben — ich wollte neue Städte erkunden, insbesondere auch fotografisch. Meine Wahl fiel schließlich auf die Ukraine, wobei für mich verschiedene Faktoren eine Rolle spielten: Die Corona-Inzidenzen waren zu der Zeit in Spanien, Frankreich und Italien hoch und in Osteuropa niedrig – und ich wollte einen Urlaub mit Freiheiten und ohne große Ansteckungsängste. Außerdem fand ich die Ukraine gesellschaftlich spannend und wollte ihre Kultur, das Essen und die Menschen kennenlernen. Zu guter Letzt hatte mich F.D. Walkers „Shooter Files“-Blog davon überzeugt, dass die ukrainischen Städte für die Street Photography einen Besuch wert sind.
Über Warschau ging es zunächst nach Kiew. Das Dream Hostel am Fuße des berühmten Andreassteigs, der vom hippen Hafenviertel Podil hoch in die Altstadt führt, hatte sich hier als Glücksgriff erwiesen. Denn neben mir war dort ein Haufen junger Musiker:innen aus der Ukraine und ganz Europa zu Gast, die an einem mehrtägigen Produktionsworkshop teilnahmen. Bereits am ersten Abend fand ich Alleinreisender mich in einer bunt gemischten Gruppe aus interessanten Menschen wieder, die begeistert von ihren Projekten erzählten. Meine Tage sahen meist so aus, dass ich tagsüber mit der Kamera in der Stadt unterwegs war und mich abends mit Leuten traf. Neben dem Hostel nutzte ich vor allem Couchsurfing, um Menschen kennenzulernen. In Kiew hatten Couchsurfer eine Chatgruppe gegründet, über die sich jeden Abend ein Kreis von Ukrainern und Expats zu Aktivitäten traf. So hatte ich die Gelegenheit mit Einheimischen über Politik, die gesellschaftliche Situation und die Korruption zu reden. Zwei Dinge sind mir dabei besonders im Gedächtnis geblieben. In Bezug auf die Maidan-Revolution von 2014 sagte jemand: „Auf dem Maidan haben wir Ukrainer uns entschieden. Es ist ein langer Weg in Richtung Demokratie, aber diesen Weg gehen wir jetzt und hinter dem Maidan führt kein Weg zurück.“ Zum anderen hatte ich mit zwei jungen Frauen über die EU diskutiert — Julia war äußerst skeptisch, sie meinte die Ukraine würde die EU mit ihren 40 Millionen Menschen, ihrer Armut und der Korruption total überfordern. Helena dagegen war idealistisch und träumte optimistisch davon, dass die Ukraine eines Tages zur EU gehören könnte. Wer hätte zu diesem Zeitpunkt gedacht, dass Präsident Selenskyjnur ein halbes Jahr später einen Beitrittsantrag stellt…[/vc_column_text][vc_single_image image=”19513″ img_size=”full” alignment=”center”][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_single_image image=”19523″ img_size=”full” alignment=”center”][vc_column_text]An meinem letzten Tag in Kiew zog ich wieder mit der Kamera durch die Straßen — und traf im Laufe des Tages gleich mehrere Leute, die ich schon von den Abenden zuvor kannte. Ich fühlte mich nach nur fünf Tagen in der Stadt richtig angekommen. Auch die Street Photography hat in Kiew richtig Spaß gemacht — der weite Gehweg auf der Flaniermeile Khreshchatyk, die Gegend um die Universität, der Maidan Nezalezhnosti, der Fitnesspark Kachalka aus der Sowjet-Ära und die Gegend um den Kontraktova Ploshcha gaben zahlreiche Motive her.
Abends ging es dann mit dem Nachtzug weiter nach Lviv. Dort traf ich im Schlafabteil auf Danya, einen 20-jährigen Ukrainer, dessen Elternhaus in der Nähe der Kontaktlinie zu den von russischen Separatisten kontrollierten Gebieten bei Donezk steht. Er hatte bereits seit Jahren eine kriegsartige Situation erlebt und machte sich keine großen Illusionen. Ich erinnere mich noch daran, wie er zu mir sagte: „Wenn die Russen kommen, dann kommen sie und dann gehe ich und verteidige mein Land.“
Lviv erlebte ich dann ganz anders als Kiev – es war deutlich kälter, es gab mehr Regen und weniger Sonne und ich lernte weniger Ukrainer und dafür mehr Expats kennen – ITler aus Spanien, der Türkei und Frankreich, die zum Arbeiten nur ihre Laptops brauchten und nun eben eine Zeit lang in der Ukraine in Airbnb-Apartments abhingen.
Lviv ist europäischer geprägt und mutet fast wie eine polnische Stadt an, es erinnerte mich von der Bausubstanz her an Krakau.[/vc_column_text][vc_single_image image=”19521″ img_size=”large” alignment=”center”][vc_single_image image=”19520″ img_size=”large” alignment=”center”][vc_column_text]Super ist die reiche Kaffeehauskultur — angeblich wurde das erste Kaffeehaus in Wien von einem ukrainischen Kriegshelden aus Lviv gegründet.
Da ich meine Reise nicht wirklich vorgeplant hatte, blieben mir am Ende nur noch zwei kurze Tage in Odessa. Nachdem ich in Lviv etwas mehr entspannt hatte, gab ich hier dafür beim Fotografieren noch einmal richtig Gas. Und Odessa hatte in Sachen Street richtig viel zu bieten:
Die lebhafte Oleksandrivs’kyi Allee, der Privoz Markt und die etwas abgehalfterte Gegend um den Busbahnhof, der kleine Odessa Luna Freizeitpark mitten in der Stadt. Und nicht zuletzt boten auch die Strände am Schwarzen Meer jede Menge Farbe und skurrile Motive.
Auch wenn ich nur 11 Tage in der Ukraine verbracht habe — die Erlebnisse aus dieser Zeit waren für mich so reichhaltig und vielfältig, dass sie kaum in diesen kurzen Bericht passen. Und auch wenn die Bilder nicht mit einem dokumentarischen Ziel aufgenommen wurden, sondern eher dem spielerischen Geist der Streetfotografie verpflichtet sind, so hoffe ich, dass sie dennoch etwas von der positiven, hoffnungsvollen, fröhlichen, demokratischen Atmosphäre einfangen, die die Ukraine in diesem Sommer für mich ausstrahlte.
Mögen diese Zeiten so bald wie möglich wiederkommen. Und mögen all die Menschen, denen ich begegnet bin und die auf diesen Bildern zu sehen sind, wohlauf und sicher sein.
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