Das Manifest der STREETphilosophie.

Irgendwann entwickelt sich ein innerer Prozess, der vom Sehen zum Hinsehen und anschließend zum Verstehen führt. Nach und nach findest Du Deine Motive und kannst die Bildaussage schneller erfassen. Es ist ein wenig so, als würdest Du versuchen, Dich in einem fremden dunklen Zimmer problemlos zu bewegen. Anfänglich mag dem Ganzen ein vorsichtiges, vielleicht auch mulmiges Gefühl anhaften – Du öffnest die Tür zur Öffentlichkeit und zu den dahinter verborgenen Motiven, was sich zunächst vielleicht seltsam anfühlt. Mit der Zeit wird es Dir immer schneller gelingen. Deinen wirklichen Zugang zur Streetfotografie findest du jedoch erst im Verlauf der intensiven Zeit, die Du damit verbringst, diese Art von Fotografie wahrhaft zu leben. Für mich hat dieser Prozess mittlerweile einen so hohen Stellenwert in meinem Leben eingenommen, dass ich meinen bisherigen Job gekündigt habe, um mich fortan vollständig der Fotografie zu widmen, insbesondere natürlich der Straßenfotografie. Wie das Ganze sich entwickeln und enden wird, kann ich nicht vorhersehen. Aber ich habe bewusst die Entscheidung getroffen, meine Vision zu leben.

Was mich dann zum nächsten Punkt führt: Visionen zu haben, ist das Wichtigste in der Streetfotografie. Visionen leiten Dich und geben Dir den inneren Antrieb, den Du benötigen wirst, um dran zu bleiben. Diese Kunst der Fotografie ist anstrengend – körperlich wie auch geistig. Stundenlanges Laufen und Suchen nach Motiven, Momenten und Augenblicken, mal mehr, mal weniger motiv- und erfolgreich, können zum Teil erschöpfend und frustrierend wirken. Lass dich treiben. Bleib am Ball und mach weiter; investiere diese Zeit. Gute Bilder und kleinere Erfolge geben Dir ein Vielfaches von dem zurück, was Du an Mühen investierst. Und sie werden sich einstellen, das verspreche ich Dir.
Die Zeit zum Fotografieren zu haben, ist genauso wichtig wie dein vorhandenes Werkzeug. Je mehr Stunden Du damit verbringst, auf der Straße zu fotografieren, desto mehr Momente wirst Du wahrnehmen und schließlich einfangen können. Das geht natürlich nicht ohne Kamera.

Diese Feststellung ist zwar zutreffend, stimmt jedoch aus meiner Sicht nur teilweise. Streetfotografie ist flexibel. Du kannst anstelle einer super Profi- Ausrüstung genauso Dein Smartphone verwenden. Möglicherweise eignet sich dieses zum Einstieg sogar besser als sofort mit einer professionellen Kamera loszuziehen. Das Smartphone hat jeder von uns fast immer dabei. Auch ungeübte Menschen machen Fotos mit ihren Handys. Aus meiner Sicht kann es sich gut dazu eignen, die eigenen Hürden nicht gleich so hochzustecken, sondern, quasi „von der Basis aus“ einen anderen – neuen – Blickwinkel zu erfahren und ihn zu trainieren. Ich empfinde es daher als weniger wichtig, mit welcher Kamera Du anfängst. Eine Frage, die sich dennoch stellt, ist zweifelsohne, ob es Equipment gibt, das für die Streetfotografie besonders gut geeignet ist. Dazu möchte ich an dieser Stelle keine gutgemeinten Ratschläge erteilen. Ich vertrete die Auffassung, dass Du im Laufe deiner Entwicklung die richtige Kamera finden wirst. Nicht jeder Fotograf hält von jedem beliebten Modell das gleiche, nicht jeder kommt mit jeder Kamera gleich gut zurecht. Hier scheiden sich die Geister und das dürfen sie. Viel wichtiger aus meiner Sicht ist, zu betonen, dass die Auswahl der Kamera in der Streetfotografie nicht an erster Stelle steht und Dich von Deinem Vorhaben keineswegs abhalten sollte. Lass Dich nicht von dem Gedanken behindern, dass Du (derzeit) noch nicht die „richtige“ Ausrüstung parat hast. Gestalterische Visionen lassen sich durch Elemente wie Licht, Kontrast und Hintergrund schon mit einem Smartphone bewältigen. Mein Rat an Dich: Konzentriere Dich auf die Gestaltung des Bildes und auf die Voraussetzungen, die Dir die Straße im jeweiligen Moment bietet. Folge dabei Deiner Intuition. Hast Du einmal diese grundsätzlichen Voraussetzungen geschaffen, legst Du das weitere Augenmerk auf Deine Wahrnehmung und Deine Sinne. Trainiere dein Sehen – auch ohne Kamera. Erkenne Situationen bevor sie eintreffen und lerne durch Erfahrungen. Erfahrung sammelst Du bei Deinen Erkundungen durch die Städte, auf deren Straßen Du Dich begibst. Auch, ohne ständig eine Kamera dabei zu haben, kannst Du das richtige Sehen lernen. Nimm Dir die Zeit und setze Dich an einen Ort, an dem Bewegung herrscht. Hier sei beispielsweise ein Café oder Kaufhaus, eine Fußgängerzone oder die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erwähnt. Beobachte Deine Mitmenschen. Lerne, Dich in andere einzufühlen und Dich in sie hineinzudenken. Beobachte in Ruhe wie sich die Menschen geben, wie sie sich verhalten, nimm Deine Beobachtungen in Dich auf und fließe mit ihnen.
Bedenke, dass Deine Motive mitunter Menschen sind, die Einwände gegen deine Fotokunst haben könnten – besonders, wenn sie Dich dabei wahrnehmen, wie du sie gerade fotografierst. Hier gilt es stets, die Besonnenheit und Freundlichkeit zu wahren. Für den Fall, dass Dein Erklärungsversuch nicht sonderlich originell ist und die betreffende Person möchte, dass Du das kürzlich entstandene Bild löschst, ist dies eine berechtigte Forderung, die berücksichtigt werden muss.

Zu jedem Bild entsteht eine Verbindung, die sich zwischen Fotograf und Foto ergibt. Ungeachtet dessen, wie die ursprüngliche Situation gewesen ist, die zum Bild geführt hat, ob es eine lehrreiche Situation, ein prägendes Ereignis, eine lustige oder traurige Begebenheit oder eine Situation, angefüllt mit Ärger war – Du lernst auf der Straße jedes Mal dazu. All diese Erfahrungen fließen in Deinen Entwicklungsprozess mit ein. Streetfotografie greift sehr tief ins eigene Leben, sie ist nicht nur ein Hobby. Ich lebe mit dieser Art der Fotografie von morgens bis abends. Die ganze Hingabe für meine Aufgabe lässt vor allem die gesetzliche Situation für mich persönlich weit in den Hintergrund rücken. Es mag sein, dass die Streetfotografie an sich in dieser Form nicht existieren darf. Auf der anderen Seite gibt es keine Gesetzesgrundlagen, die es verbieten, Motive auf der Straße zu fotografieren. Wir dürfen fotografieren und zeigen, was wir verantworten können. Aus diesem Grund muss für unsere Arbeit die respektvolle Eigenverantwortung als unbedingter Maßstab angelegt werden. Dies erachte ich als zwingend notwendig. Jeder sollte seinen persönlichen Weg in der Streetfotografie finden, sie bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, die eigene Richtung zu bestimmen. Wer sich diesem Leben verschreibt, kann mit der Zeit seine wahre Bestimmung finden. Nimm Dir Zeit für eine Reflexion Deiner selbst, egal, wie lange Du schon fotografierst. Habe die Muße, alles zu überdenken und schau auf Dein Schaffen zurück. Routine ist der eigentliche Feind unseres kreativen Schaffens, durch sie fallen wir immer in dasselbe Muster zurück. Unsere Arbeits- und Herangehensweise, unser Blickwinkel, die Sicht auf die eigenen Bilder sind es, die unsere Fotografie zum Leben erwecken. Warum nicht einmal alles über Bord werfen und neu entdecken? Wo lag Dein ausschlaggebender Punkt für die Entscheidung, auf die Straße zu gehen, um das Alltägliche einzufangen? Wichtige Fragen, die im Laufe der Zeit aufkommen und beantwortet werden sollten, um Deinen weiteren Weg zu finden und auszubauen.
Solltest Du Deine Richtung schon kennen oder Deinen Weg schon gefunden haben, beglückwünsche ich Dich. Nein, das ist kein Scherz, ich meine es ehrlich. Ich bin selbst noch auf der Suche und kämpfe oft mit meinem Inneren. Ich kann mich häufig nicht entscheiden und würde am liebsten alle mir wichtigen Augenblicke, die ich sehe und erlebe mit nur einem Augenzwinkern festhalten. Leider muss ich mir hin und wieder eingestehen, dass das nicht möglich ist. Ich bewege mich an vielen Orten, seien es Demonstrationen oder öffentliche Veranstaltungen; ich unternehme Reisen in ferne Länder und fremde Städte; ich nehme an Photowalks teil und suche das Leben, aus dem ich am liebsten überall meine Kunst ziehen würde.
Streetfotografen, die ihren Weg gefunden haben, sind nicht unbedingt die bekanntesten. Tauche tiefer in diese Szene ein und kratze nicht nur an der Oberfläche. Sauge die Bilder anderer Fotografen auf und lerne, die Möglichkeiten zu entdecken, die Dir mitunter geschenkt werden. Es ist wichtig, die Streetfotografie, oder wie Du diese besondere Kunst auch immer nennen möchtest, in ihrem tieferen Sinn zu erfahren und zu verstehen. Das alles ist ein Reifeprozess, der, zumindest in meinem Fall, unweigerlich zu einer realen Lebenseinstellung geworden ist.
Dieser Artikel ist in Ausgabe #04 des SoS-Magazin erschienen. Hier gehts zum kostenlosen PDF–Download:Soul of Street Ausgabe #04
Text: Marc Barkowski
Bilder: Reiner Girsch